Ecce homo | Seht den Menschen

Da ist er, ein Mensch, im Mittelpunkt der Grausamkeit der Welt, der Gewalt, die andere auf ihn ausüben. Er sitzt auf den Stufen in einem Torbogen, umgeben von seinen Peinigern. Der Evangelist Matthäus erzählt: „Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus, führten ihn in das Prätorium und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Sie zogen ihn aus und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf das Haupt und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen damit auf seinen Kopf.“ (Mt 27,27-30)

Der große venezianische Meister Tizian (*1488/90-1576) hat dieses Motiv fast neunzigjährig in einer faszinierenden Weise dargestellt. Durch die expressive Maltechnik und die verschwimmenden Konturen im Lichtspiel des Halbdunkels erreicht der Meister eine Ausdruckskraft, die seiner Zeit der Renaissance voraus war.

Umzingelt von vier Schergen, die dem geschundenen Christus mit Stöcken die Dornenkrone aufs Haupt drücken, ein Weiterer steht am Bildrand mit neuen Stöcken. In der Mitte ist Christus, als ein bärtiger, nachlässig gekleideter Mann mit gefesselten Händen, starkem muskulösen Arm, abgewendet vom Geschehen, nahezu unbeteiligt, nach innen gekehrt. Wenn dieser Mann aufrecht stünde, würde er alle um ihn mindestens um eine Kopfhöhe überragen.

Bloßstellen und Verhöhnung ist das Ziel der Peiniger, er soll physisch und psychisch niedergemacht werden.

Der sich selbst als Gottessohn bezeichnete, sollte in seiner Rolle als König der Juden in grausamer Perversion gezeigt werden. Später wird Pilatus das auf den Titulus des Kreuzes schreiben lassen. Dadurch wird die Kreuzigung Christi zu etwas außergewöhnlichem unter den zahlreichen Hinrichtungen am Kreuz in jener Zeit. Es braucht eine Übermacht, um den Geschundenen zu bezwingen, der trotz der Demütigung und Hatz auf ihn, in sich eine innere Ruhe ausstrahlt, ja menschliche Würde offenbart. Die Soldaten hingegen wirken ungeschickt und umständlich. Wie so oft ist es die Dummheit der Brutalität, die sich Bahn bricht, wo Menschen ohne Rücksicht auf Verluste und die Würde des Anderen ihre Macht ausspielen wollen.

Der alte Meister, dessen Werke der letzten Schaffensperiode ähnlichen Ausdruck erreichen, drückt eine ungeheure Leidenschaft und Aggressivität aus, die bis in unsere Tage die Brutalität der Menschen prägt. Tizian vernachlässigte die Farbigkeit, malt braun in braun und peitscht nur einige gelbe und weißliche Lichter auf die Leinwand. Dieses Werk hat ein Tizian gemalt, den es vorher nicht gab. Er lässt die Ausdruckskraft der Renaissance hinter sich. Hohn, Spott, Unverstand, Dreistigkeit und Eitelkeit dieser Gesellschaft können den Mann, der dasitzt, abgewandt und leicht zur Seite geneigt, nicht erreichen. Mit dem rechten Bein stützt er sich ein wenig ab und lehnt, Halt suchend, an der Säule hinter sich, damit die mit ihren Stangen nicht abrutschen.

Tizian weiß, dass die armen Kerle seine Malerei nicht verstehen können. Obwohl er viel stärker ist als die, hält er es für sinnlos, die Burschen mit einem Fußtritt die Treppe hinabzuschleudern. Geduldig erträgt das Genie am Ende seines Lebens die stehengebliebene Umgebung. abgeklärt mit Verständnis und Güte.

So gibt er uns einen tiefen Blick auf die Anfangsszene der Passionserzählung. Auch heute werden Menschen von der Dummheit und Machtbesessenheit anderer gedemütigt und können darin diesem Christus gleichsam auf Augenhöhe begegnen. Der Erlöser ist kein Superheld, er geht durch das Leiden, das sich in Krieg und Terror, in Mobbing und Machtspiele vieler Kleingeister bis heute wiederholt.
Auch der auferstandene Christus zeigt den ersten Osterzeugen seine Wunden, er macht deutlich, dass Erlösung auch die Überwindung des Leids der Welt bedeutet, ja alle Scheinheiligkeit und Dummheit der Welt entlarvt im österlichen Licht des Auferstandenen.

So dürfen wir Ostern feiern, immer achtsam blickend auf welcher Seite wir stehen, dass wir uns nicht mitreißen lassen, der Brutalität der Welt dienstbar zu sein. Als Erlöste das Böse mutig zu entlarven, wissend, dass der geschundene Christus auch auf uns blickt.

Reinhard Röhrner

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert