Ja, auch dieser Bericht aus dem September 2001 soll seinen Platz hier finden:
Mein 9/11 oder warum ich mich in der Notfallseelsorge engagiere
Nach den ereignisreichen Tagen meiner Priesterweihe und Primiz, den Tagen und Wochen des Primizsegens, von Urlaubsvertretung und mutmachenden Gesprächen führte mich der Weg zu Septemberbeginn an meine erste Kaplanstelle nach Deggendorf in die Pfarrei Mariä Himmelfahrt.
In den ersten Tagen ging es vor allem darum Menschen und Abläufe in der Pfarrei und in den verschiedenen Aufgaben der Seelsorge kennen zu lernen. Ja, auch in meine Rolle als Priester und Seelsorger hinein zu wachsen. Mit dem 11. September 2001, einem Dienstag begann mein Dienst an der Grundschule Theodor-Eckert und an der Hauptschule Theodor Heuss in Deggendorf, wo ich tags zuvor die neuen Kollegen kennen lernen durfte.
Inmitten der ersten Versuche Ordnung in all die Eindrücke und Aufgaben zu bringen schreckte mich ein Telefonanruf meines Pfarrers auf. Er bat mich dringend sofort zu ihm ins Wohnzimmer zu kommen. Er war ganz aufgeregt und wies auf den Fernseher. Das aktuelle Programm war unterbrochen und auf dem Bildschirm konnte man die Meldungen aus New York sehen wie die beiden Flugzeuge in die Twintowers des World-Trade-Centers flogen. Brennende Türme wie Fackeln. Ein surreales Schauspiel, gebannt blickten wir auf die Berichte, halb zweifelnd, ob es Wirklichkeit oder Fiktion sei, halb hoffend, dass es nur ein wirres Albtraumbild sei.
Mehr und mehr wurden die schrecklichen Meldungen Gewissheit, ebenso die anderen Anschläge, die beinahe zeitgleich verübt wurden. Dann stürzten die Türme ein. Ohnmächtig und hilflos standen wir dem Grauen gegenüber, wie durch ein Fenster brachte das Fernsehen die Bilder zu uns. In der abendlichen Messfeier beteten wir für die Opfer und die Rettungskräfte noch ohne einen genauen Begriff von Dimensionen des Grauens zu haben.
Nach der Messe kam eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung zu mir in die Sakristei. Der Stadtpfarrer habe ihr gesagt, dass ich hier sei und mich gebeten die Oberbürgermeisterin zu begleiten. Auf einem Kreuzfahrtschiff auf der Donau, das im Personenhafen vor Anker liege, seien amerikanische Touristen. Der Kapitän habe um seelsorglichen Beistand gebeten. Da der Pfarrer selbst kaum Englisch spreche, bat er mich mit ihr zu fahren.
Minuten später fuhren wir, die Oberbürgermeisterin, ihre persönliche Referentin und ich zum Hafen. Der Kapitän empfing uns am Schiff und führte uns an einen Tisch, an dem zwei ältere amerikanische Ehepaare saßen. Es war mir unangenehm. Ich wusste nicht, ob meine Englischkenntnisse reichen würden und was mich überhaupt erwartet.
Einer der beiden Männer fragte mich, ob ich Priester sei und nachdem ich es bejaht hatte fasste er meine beiden Hände und kämpfte mit den Tränen. Da begann der andere zu erzählen, die Frauen saßen angespannt regungslos dazwischen. Sein Sohn arbeite in einem der Türme des WTC, die Tochter der anderen Familie ebenso. Sie wissen nichts. Die amerikanische Botschaft sei informiert, doch es gebe keine klaren Hinweise. Die Lage zu undurchsichtig. Auf der Fahrt nach Deggendorf hätten sie davon erfahren und seien nicht an Land gegangen um am Nachrichtenticker zu sein…
Ich hatte Mühe es zu verstehen, meine geringe Übung, die Erregung des Amerikaners. Doch bei gutem Willen geht mehr, als man denkt. Da holt eine der Frauen Bilder hervor. Sie zeigt auf die Tochter und weint bitterlich. Sie habe Angst um ihre Tochter, die Familie wisse noch nichts, sie sei nicht zuhause und gehe auch nicht an ihr Mobiltelefon. Auch die Firma wisse noch nichts. So ähnlich klingen die Aussagen der anderen. Langsam beginnen alle sich ins Gespräch einzubringen, ich muss nur wenig sagen, vor allem hören, es ist anstrengend und die Augen prüfen, ob ich signalisiere alles verstanden zu haben.
Wir wechseln den Ort, ein weiteres amerikanische Ehepaar kommt dazu. Die Paare haben die Reise gemeinsam gebucht, die Vorfahren eines Mannes kamen einst aus dem Bayerischen Wald in die Vereinigten Staaten. Bei allem Zuhören bin ich eigentlich völlig überfordert. Die Oberbürgermeistern verabschiedet sich und die sechs Amerikaner, ein Schiffsoffizier und ich sitzen da. Wir trinken gemeinsam etwas und es wird geredet, geweint und immer wieder kurz gelacht. Dann die bange Frage, ob nicht endlich eine Nachricht da sei.
Es ist schon spät, die Uhr geht auf Mitternacht zu als ein Mobiltelefon klingelt. Die Tochter der einen Familie liegt im Krankenhaus, sie war noch nicht bei der Arbeit, sie verspätete sich. Deshalb war sie noch nicht in ihrem Büro. Auch bei der anderen Familie keimt neue Hoffnung auf. Wird der Sohn noch leben? – Ich erfahre viel aus den Familien, viel vom Miteinander, von Sorge und Not des alltäglichen Lebens. Auch wenn mir vieles unbekannt ist, höre ich zu. Ich kann nicht viel sagen, aber wir beten immer wieder dazwischen. Ich bin froh, dass ich das Vater Unser noch auf Englisch hinbekomme, beten nimmt ein Stück der Ohnmacht, überwindet die Sprachlosigkeit.
Mit der Zeit sitzen wir noch in einer Männerrunde, die Frauen gehen in die Kabine und kommen wieder. Alle sind so aufgewühlt. Die Müdigkeit und die Unruhe wechseln sich ab. Ich bin hundemüde, aber das Gespräch hält wach, Cola und Whiskey tun das Übrige. Gegen 4 Uhr morgens erfahren wir, dass auch der Sohn der anderen Familie an diesem Tag noch nicht in seinem Büro war. Durch das Chaos hat es lange gedauert, bis er sich melden konnte. Er ist wohl auf und hat sich persönlich gemeldet.
Eine dichte Zeit mit den Familien, ich habe mehr erfahren als ich mir gedacht hätte. Ich habe versucht zu formulieren, was ich Glaube. Fragen nach dem Sinn des Lebens angesichts des Leids versucht zu formulieren. Ich weiß nicht, ob ich ziemlich viel Unsinn geredet habe, aber es scheint angekommen zu sein.
So habe ich mich in einen milden Herbstmorgen hinein zu Fuß auf den Heimweg gemacht. Ich brauchte das Gehen und die Stille. Die aufziehende Dämmerung und die Stille wirkten so friedlich, ein wohltuender Kontrast zur vergangenen Nacht. Ich hätte nicht gedacht wie intensiv der Abend werden würde.
Ich lag im Halbschlaf und döste, in mir war zu viel in Bewegung, als dass ich hätte einschlafen können. Andererseits spürte ich die Müdigkeit. Beim Frühstück fragte mich mein Chef, wie lange es gedauert habe. Da wollte ich etwas erzählen, aber das wollte er nicht hören. Ich hätte früher gehen müssen. Man kann da nicht einfach sitzen bleiben und dann am anderen Tag nicht fit sein. Ich könne nicht erwarten, dass er meine Aufgaben übernähme… Ich hörte nicht mehr hin, sondern ging zur Grabkirche um in der Stille zu beten. Gebet und Stille geben Kraft. Ich habe den Tag geschafft.
Eine Woche später kam ein Päckchen. Zwölf kubanische Zigarren, ja wir hatten darüber gesprochen, dass ich es genieße in Ruhe ab und an eine zu rauchen. Die Familien bedankten sich. Ich wusste, dass es richtig war, „die Spatzen pfeifen zu lassen.“
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